Geschichten der DDR-Bürger
Bevorzugte Abfertigung
Nach dem der letzte private Grünkramfritze unseres Stadtteils gestorben war und
HO- sowie Gemüsekonsum geschlossen Urlaub machten, stellten eines Tages
Techniker eine kleine, grüne Bude aus Hartplast direkt neben der Kaufhalle auf
- einen Obststand.
Klar, dass die Leute nun Schlange standen, besonders wenn herrliche bulgarische
Pfirsiche mit ihren samtenen Pfirsichwangen angeboten wurden.
Nun ist es nicht unbedingt das schönste Vergnügen, bei 25 Grad im Schatten in
der Sonne anzustehen. Und selbst wenn der ganze Anstehvorgang nur zwanzig Minuten
dauert, kommt es einen wie eine Ewigkeit vor. Schlimm wird die
Angelegenheit, wenn immer wieder verantwortungslose Bürger, die
etwas anderes als das Allgemeinwohl im Kopf haben, versuchen,
durch Vordrängeln Zeit herauszuschinden!
Solange ich noch weiter hinten stand, war mir ja infolge meiner Kurzsichtigkeit
entgangen, welche Ungerechtigkeiten sich vorne abspielten. Aber je näher
ich heranrückte, desto verdächtiger kam mir die Sache vor. Und jetzt, als ich
den fünften oder sechsten Platz einnahm, fiel es mir plötzlich wie
Schuppen von den Augen!
"He, junges Frollein!" blökte ich sofort los. "So geht es aber
nicht! Jawohl, Sie mit dem blonden Zopf oder was das vorstellen soll. Wir haben
unsere Zeit genauso wenig gestohlen wie Sie! das ist ja eine
Unverschämtheit sondergleichen. Drängelt sich einfach vor. Wenn's
geht, dann geht's"!
"Sie hat einen Ausweis", erklärte mir die an vierter
Stelle anstehende Dame.
"Ich habe hundert Ausweise", meckerte ich unverdrossen weiter.
"Wenn es danach geht, wer heutzutage alles Ausweise hat, da könnte man
sich gleich aufhängen. Ausweise, he! Wir sind ältere Bürger, aber die
jungen Bürger sollen das Alter trotzdem ehren. In der Bahn stehen sie nicht
auf, und hier drängeln sie sich vor!"
"Sie ist schwanger", wurde die vor mir stehende Dame jetzt eine Spur
deutlicher.
Donnerwetter - ich kriegte natürlich einen ungeheuer roten Kopf. Junge, Junge,
das war mir vielleicht peinlich, weil die Sache schon gut zu erkennen war, wenn
man genau hinsah.
Ich holte tief Luft.
"Fräuleinchen, entschuldigen Sie schon. Aber das hatte ich ja gar nicht
gesehen gehabt, dass Sie sich in einen sogenannten gesegneten Zustand befinden.
Das tut mir aber richtig leid, tut mir das. Nein, nein, da ist es
schon richtig und ja auch zugelassen, dass Sie gleich vorne drangehen,
schon wegen der Vitamine...", so rettete ich mich einiger maßen aus der
Schlinge.
Aber kaum war die kleine Blonde mit dem Zopf abgefertigt, tauchte bereits am
Horizont die nächste werdende Mutter auf, diesmal rothaarig.
"Hier, Fräulein!" rief ich galant. "Immer gleich vorne
heranspaziert! es gibt Pflaumen, Tomaten, Weintrauben und wunderschöne
bulgarische Pfirsiche, das Kilo zu dreizwanzig. Da wird sich das zukünftige
Kleinchen aber freuen. Wie soll's denn heißen, Fräuleinchen?"
Natürlich freuen sich auch alle umstehenden Anstehenden, weil ein
bisschen Freundlichkeit und Entgegenkommen auch im Sozialismus nicht
schaden kann.
Aber zurück zum Horizont! Diesmal erschien ein schwarzhaarigen Fräulein. Sehr
hübsch anzusehen, aber, wie gesagt, in freudiger Erwartung. Als Mann hat
man ja bekanntlich einen Blick dafür...
Na ja, jedenfalls schneite es an diesem bewussten Tag an dem neuen
Obststand lauter Fräuleins, die in guter Hoffnung waren beziehungsweise
ein Kind direkt unter dem Herzen trugen. Und kurz bevor ich dran
war, trudelte noch so ein längliches blondes Fräulein ein, bei der
man ebenfalls ganz deutlich erkennen konnte, dass der Klapperstorch wie
ein Damoklesschwert über ihrem Kopf rumschwirrte. Leider waren dann
hinterher die schönen bulgarischen Pfirsiche alle.
Trotzdem kann man getrost zusammenfassend ausrufen, dass es
bevölkerungspolitisch - wenigstens in unserem Wohngebiet - ganz zügig
vorwärtsgeht, am Obststand hingegen entsprechend langsamer.
John Stave
Fortsetzung folgt!